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Chancen für den Gelenkerhalt

Zwei Experten diskutieren Fortschritte in der Arthrose-Therapie

Von Bauerfeind Life am 14.10.2025

Kurz & knapp Fortschrittliche Arthrose-Therapie versucht individuell auf die Ansprüche und Lebenssituationen der Patienten einzugehen, um wieder Bewegung zu ermöglichen. Moderne Hilfsmittel können dabei unterstützen, sofern sie nachweislich wirksam, alltagstauglich und differenziert einsetzbar sind. Diese und weitere Aspekte diskutieren stellvertretend zwei Experten aus der Medizin und Bewegungswissenschaft. Zusammen gewähren sie Einsichten und Ausblicke zum Umgang mit einer der aktuell größten Herausforderungen im Praxisalltag.

Prof. Dr. Stefan Sell, Ärztlicher Direktor des Gelenkzentrums Schwarzwald, und der Biomechaniker und Bewegungswissenschaftler Dr. Bernd Stetter sind beide am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) aktiv in der Arthrose-Forschung und kooperieren für Studienprojekte mit Industriepartnern. Gemeinsam blicken sie auf neue Wege in der Behandlung der Volkskrankheit und notwendige Evidenz: Eine Ära der konservativen Therapie zeichnet sich ab – mit innovativen Hilfsmitteln und ihrem differenzierten Einsatz für den Gelenkerhalt.

Mediziner und Bewegungswissenschaftler im Austausch:
Prof. Dr. Stefan Sell (links) und Dr. Bernd Stetter (rechts).

Prof. Sell: Die interessanteste Entwicklung der letzten Jahre ist zweifellos das veränderte Anspruchsverhalten von Arthrose-Patienten. Der 50-Jährige will voll mithalten im Tennis und der 80-Jährige will seinen Sport nicht aufgeben müssen. Wir sehen in der orthopädischen Praxis immer mehr Patienten in frühen und mittleren Arthrose-Stadien. Gerade denen müssen wir mehr Optionen für die Langzeittherapie anbieten.

Dr. Stetter: Dass wir jüngere Patienten in einem frühen Krankheitsstadium in der Bewegung unterstützen, ist hoch relevant. Körperliche Aktivität spiegelt Lebensqualität wider und ist gleichzeitig wichtig für den Gelenkerhalt. Dafür braucht es nicht gleich die hochkomplexe, massiv entlastende Orthese. Hilfsmittel wie Kompressionsbandagen oder Softorthesen, die häufig wesentlich besser toleriert werden, leisten ebenfalls einen wichtigen Beitrag, um möglichst aktiv und schmerzfrei zu bleiben. Als Biomechaniker und Bewegungswissenschaftler betrachte ich die mechanische Belastung des Gelenks als einen entscheidenden Faktor, der zur fortschreitenden Degeneration des Knorpels beiträgt. Je länger es gelingt, die Patienten innerhalb der konservativen Behandlungsoptionen im unteren Bereich der therapeutischen Pyramide zu halten, desto besser ist es für den Gelenkerhalt.

„Früher hieß es Bandage oder Hartrahmenorthese. Heute ist die Auswahl nicht nur größer, sie ist auch differenzierter.“

Prof. Dr. Stefan Sell

Prof. Sell: Ein gutes Bild. Ergänzen möchte ich, dass im unteren Bereich dieser Pyramide drei Maßnahmen einen entscheidenden Stellenwert haben: Gewichtsreduktion, Ernährungsumstellung und Bewegung. Dadurch kann das Fortschreiten der Erkrankung verlangsamt werden. Wenn ich dann die Pyramide bis zur Spitze betrachte und mit ihr die zunehmende Symptomatik, brauchen wir für die konservative Therapie ein durchgängiges Stufenkonzept bei der Hilfsmittelversorgung. Früher hieß es entweder Bandage oder Hartrahmenorthese. Dazwischen gab es so gut wie keine Angebote. Heute kann man in der technischen Orthopädie den Grad der Entlastung viel feiner regulieren. Die Auswahl ist nicht nur größer, sie ist durch viele Neuprodukte auch differenzierter. Ohne diese Kaskade von abgestuften Hilfsmitteln könnten Patienten viele ihrer Aktivitäten nicht oder nur sehr eingeschränkt ausüben. Ein großer Zugewinn für die gelenkerhaltende Therapie, auch wenn natürlich gilt: Die Wirkung der Hilfsmittel, vor allem neuartiger Hilfsmittel muss bewiesen werden. Nur mit entsprechender Evidenz können wir sie in der Praxis und in Leitlinien etablieren.

Studien mit Hilfsmitteln können ihre Wirksamkeit und positive Effekte auf die Lebensqualität der Patienten belegen.

Dr. Stetter: In jedem Fall sehen wir ein erweitertes Spektrum in der Arthrose-Versorgung und einen sich weiter entwickelnden Markt. Erkenntnisse aus Anwendungsbeobachtungen und Fallgeschichten geben Aufschluss zur Akzeptanz und liefern Erfahrungswerte, wie die Hilfsmittel bei Arthrose-Patienten wirken. Sie können Ärzten eine Orientierung für mögliche Behandlungswege geben. Ergänzend sind interventionelle Studien wichtig, um die notwendige wissenschaftliche Evidenz für Wirkweisen zu erbringen. Dann sind wir bei komplexen Studiendesigns mit kontrollierten Rahmenbedingungen, die klinische und biomechanische Aspekte berücksichtigen. Welche Effekte erzeugt ein konkretes Hilfsmittel auf die Gelenkkinematik und -kinetik? Wo und wie sind sie messbar? Das Beispiel orthopädischer Einlagen verdeutlicht, wie umfassend unsere methodische und analytische Sicht auf das System des menschlichen Körpers sein muss: Wir intervenieren am Fuß, und durch die Kopplung mit Unterschenkel, Oberschenkel, Hüfte rufen wir gegebenenfalls auch in diesen Regionen und darüber hinaus Effekte hervor.

Prof. Dr. med. Stefan Sell ist Ärztlicher Direktor des Gelenkzentrums Schwarzwald am Krankenhaus Neuenbürg und Lehrstuhlinhaber für Sportorthopädie und Belastungsanalyse am Karlsruher Institut für Technologie. Er ist wissenschaftlicher Berater der Bauerfeind AG.

Prof. Sell: Und zusätzlich können Effekte auftreten, mit denen niemand im Vorfeld der Untersuchung gerechnet hat. Bei einer Coxarthrose-Studie des KIT mit der CoxaTrain konnte der Nachweis erbracht werden, dass die Hüftorthese die gesamte Lenden-Becken-Hüftregion beeinflusst und sich eine vermehrte funktionelle Bewegung zeigt.1 Bei einer Studie mit der GenuTrain OA zeigte ein neu eingesetzter Sensor, der den Energieverbrauch misst, dass die entlastende Orthese Gonarthrose-Patienten zu mehr intensiver körperlicher Aktivität verhelfen kann.2 Meine Erkenntnis lautet daher: Studien müssen breit angelegt sein, um auch Randeffekte miterfassen zu können.

Dr. Bernd Stetter ist Ingenieur der technischen Orthopädie, Biomechaniker und Bewegungswissenschaftler. Er forscht als akademischer Mitarbeiter am Karlsruher Institut für Technologie und leitet seit Ende 2024 die Abteilung Medical Affairs der Bauerfeind AG.

Dr. Stetter: Wir müssen zudem international denken – in der Produktentwicklung und Evaluationsforschung. Arthrose ist eine weltweite Herausforderung. Im Zusammenhang mit der Behandlung sind unterschiedliche nationale Gesundheitssysteme und Versorgungsstrukturen zu bedenken. Wir bewegen uns in einem sehr komplexen Medizintechniksektor. Diese Anforderungen zu integrieren, bedarf eines fortschreitenden Prozesses der Innovation und wissenschaftlichen Untermauerung. Nur so kann weltweit medizinische Akzeptanz generiert und die Hilfsmittelversorgung als Therapiebaustein gestärkt werden.

Prof. Sell: Ein wichtiger Aspekt. Hilfsmittel sind immer in Kombination mit anderen Therapieformen zu sehen. Die Vorstellung, Arthrose sei als degenerativer Vorgang rein mechanisch bedingt, ist seit Jahrzehnten überholt. Entzündungs- und Stoffwechselprozesse spielen eine große Rolle, wodurch Ernährung zur Stellschraube wird. Und der Umgang der Patienten mit ihrer Erkrankung zählt. Viele meiner Patienten machen spezifische Bewegungstherapien mit Muskelaufbau und Physiotherapie, auch präventiv. Arthrose hat oft einen wellenförmigen Verlauf. Mit der Bewegungstherapie können sie die Wellen kleiner halten.

„Wichtig ist, dass die Qualität stimmt bei Forschung und Entwicklung – damit am Ende ein Medizinprodukt steht, das gesichert hilft.“

Dr. Bernd Stetter

Dr. Stetter: Und eine Hilfsmittelversorgung steht in keinem Widerspruch zu einer Bewegungstherapie oder einer physiotherapeutischen Behandlung. Im Gegenteil: Ihr Zusammenwirken, fast egal in welchem Stadium, kann sich positiv auswirken. Vorausgesetzt, die aktuelle individuelle Belastbarkeit wird nicht überschritten. Biofeedback-Systeme und digitale Lösungen eröffnen neue Chancen, den Verlauf einer Arthrose zu verlangsamen.

Prof. Sell: Arthrose-Therapie ist herausfordernd, und wie groß der Bedarf jetzt schon ist, zeigen aktuelle Statistiken. Selbst wenn man die höhere Lebenserwartung herausrechnet, ist die Zahl der Betroffenen seit dem letzten Jahrhundert weltweit angestiegen. Allein in Deutschland sind es rund fünf Millionen. Arthrose hat also nicht nur mit dem Alter zu tun. Sie ist ein multifaktorieller Prozess.

Arthrose ist eine konstante Herausforderung im Praxisalltag. Gefragt sind gelenkerhaltende Therapieansätze, die Beschwerden spürbar lindern und Patienten wieder Bewegung ermöglichen, sind sich die Experten einig.

Mit höchst individuellem Profil: Die Strukturqualität der Knorpelschicht kann genetisch variieren, Trainingseffekte verändern die Belastbarkeit und für den einen sind 10.000 Schritte pro Tag ideal, für den anderen 6.000. Was Hilfsmittel betrifft, sehe ich deshalb die Zukunft in ihrer weiteren Differenzierung: mehr Spezialprodukte für noch speziellere Anforderungen in der Therapie. Und ich sehe sie in neuen Arten von Produkten, die digitale Möglichkeiten aufgreifen.

Dr. Stetter: Bewährte orthopädische Hilfsmittel werden sicher weiter existieren, aber denkbar ist zum Beispiel, verschiedene Therapieformen mehr zu kombinieren und sie in einem Produkt zu fusionieren. Aspekte des Selbstmanagements könnten eine Rolle spielen. Wichtig ist, dass die Qualität stimmt bei Forschung und Entwicklung. Damit am Ende ein Medizinprodukt steht, das gesichert hilft, mit Arthrose gut leben zu können.

1     Steingrebe, H., Stetter, B. J., Sell, S., Stein, T. Effects of Hip Bracing on Gait Biomechanics, Pain and Function in Subjects With Mild to Moderate Hip Osteoarthritis. Frontiers in Bioengineering and Biotechnology_July 2022_Volume 10_Article 888775 [Artikel-DOI: 10.3389/fbioe.2022.888775].

2     Stetter, Bernd J., Janis Fiedler, Michèle Arndt, Thorsten Stein, and Stefan Sell. 2024. Impact of a Semi-Rigid Knee Orthotic Intervention on Pain, Physical Activity, and Functional Capacity in Patients with Medial Knee Osteoarthritis. Journal of Clinical Medicine 13, no. 6: 1535. https://doi.org/10.3390/jcm13061535.

Bilder: Udo Schönewald, Bauerfeind AG

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