Kurz & Knapp Dr. Tobias Hirsch, Facharzt für Innere Medizin und Angiologie, Phlebologe aus Halle (Saale), berichtete beim „27th European Vascular Course“ in Maastricht, inwieweit Herzinsuffizienz, Periphere arterielle Verschlusskrankheit und Polyneuropathie Risiken oder Kontraindikationen für eine Kompressionsversorgung sein können. Sein Fazit: Es kommt im Einzelfall auf die Schwere bzw. das Stadium der jeweiligen Erkrankung an. Dazu stellte er mehrere einfache und günstige Tests vor: die Bestimmung des NT-proBNP-Wertes und die Frage nach der Kurzatmigkeit (bei Herzinsuffizienz), die Messung des Fußpulses bzw. ABI-Wertes (bei PAVK) sowie das Temperatur-, Vibrations- und Berührungsempfinden an der Fußsohle (bei Polyneuropathie, insbesondere bei diabetischem Fuß). Darüber hinaus sei es wichtig, Patienten zuzuhören, appellierte Dr. Tobias Hirsch: „Die meisten relevanten Punkte erfahren wir, wenn der Patient uns seine Geschichte erzählt.“
Kompressionsstrümpfe·Venenbeschwerden
„Lernen Sie Ihre Patienten kennen!“
Kritischer Blick auf Kontraindikationen für Kompression
Von Bauerfeind Life Magazin am 28.06.2024
Warum Herzinsuffizienz, periphere arterielle Verschlusskrankheit oder Polyneuropathie eine Kompressionstherapie nicht per se ausschließen, erläuterte Dr. med. Tobias Hirsch im Frühjahr 2024 auf dem „27th European Vascular Course“ in Maastricht.
Viele Patienten, denen eine Kompressionstherapie bei einem Venenleiden helfen kann, leiden zusätzlich an schweren Erkrankungen wie Herzinsuffizienz, peripherer arterieller Verschlusskrankheit (PAVK) und Polyneuropathie, die allgemein als Kontraindikationen betrachtet werden. Doch wann ist von einer Kompression tatsächlich abzuraten? Und: Wie lässt sich das unkompliziert in der Praxis feststellen? Mit diesen Fragen beschäftigte sich im März 2024 ein Workshop von Dr. med. Tobias Hirsch, Facharzt für Innere Medizin, Angiologie und Phlebologie aus Halle an der Saale, auf dem „27th European Vascular Course“ in Maastricht.
Herzinsuffizienz: Auf die NYHA-Stadien kommt es an
Laut Dr. Tobias Hirsch sollte man sich bei der Beurteilung einer Herzinsuffizienz an der Stadieneinteilung der New York Heart Association orientieren. Sie reicht von I bis IV. Bei Patienten in den Stadien I (asymptomische Herzinsuffizienz) und II (leichte Herzinsuffizienz unter Belastung) stelle Herzinsuffizienz noch keine Kontraindikation für Kompression dar.
Nur bei den Stadien III (Luftnot bereits bei geringer Belastung) und IV (Luftnot in Ruhe), also bei schwerer Herzinsuffizienz, ist die Kompressionstherapie eine Kontraindikation.
Zu den Ursachen zählen ernsthafte Erkrankungen, wie die koronare Herzkrankheit (KHK), Vorhofflimmern oder Herzversagen. „Liegt zusätzlich ein Lymphödem vor, das mit Lymphdrainage und einer Kompressionstherapie behandelt werden muss, müssen wir vorab klären, ob ein Patient an Dyspnoe, Nykturie, Fatigue, Angina Pectoris oder allgemeiner Schwäche leidet“, sagte Dr. Tobias Hirsch. Insbesondere Kurzatmigkeit (Dyspnoe) sei eine potenziell lebensgefährliche Komplikation. Der Grund: Durch das Mobilisieren von Ödemflüssigkeit können Kompression oder Lymphdrainage eine zusätzliche Volumenbelastung des Herzens verursachen.
Um das Risiko zu evaluieren, fragt der Facharzt seine Patienten daher, ob sie auch ohne starke Belastung an Luftnot leiden, flach liegend schlafen können, welche Medikamente sie nehmen und nicht zuletzt, ob sie in der Vergangenheit bereits manuelle Lymphdrainage und Kompressionsstrümpfe gut vertragen haben. In diesem Fall könne man die Behandlung meist fortsetzen. Neben der Untersuchung mit dem Stethoskop zum Ausschluss von Wasser in der Lunge stehe mit NT-proBNP (Brain Natriuretic Peptide) ein geeigneter Biomarker zur Verfügung. Ein erhöhter NT-proBNP-Wert weist auf eine Überlastung des Herzmuskels hin und ist ein Indikator für eine dekompensierte Herzinsuffizienz (NYHA-Stadium III und IV). Auch tritt im Gegensatz zu einem Lymphödem das durch eine Herzinsuffizienz verursachte Ödem symmetrisch an beiden Beinen auf.
PAVK: Knöchel-Arm-Index gibt Auskunft
Auch bei peripherer arterieller Verschlusskrankheit (PAVK) ist laut Dr. Tobias Hirsch eine Kompressionstherapie grundsätzlich denkbar. Voraussetzung sei die Kontrolle der arteriellen Durchblutung. „Zunächst kann man ganz einfach händisch den Fußpuls prüfen, wenn die Anamnese Hinweise auf eine arterielle Durchblutungsstörung ergeben hat“, empfiehlt der Gefäßspezialist. Bei fehlendem Fußpuls gebe der ABI-Wert (Ankle-Brachial-Index, deutsch: Knöchel-Arm-Index) über das Ausmaß der Durchblutungsstörungen Auskunft. Dieser lässt sich mit einem Doppler-Ultraschallgerät einfach messen. Bei einem ABI-Wert unter 0,9 müsse untersucht werden, ob Hautveränderungen vorliegen. Doch erst ein Wert von unter 0,6 bzw. ein Absolutwert des Knöchelblutdrucks von 60 mmHg im Liegen stelle eine Kontraindikation für Kompressionsstrümpfe dar. Möglich sei jedoch eine intermittierende pneumatische Kompression (IPK), da sie in Ruhestellung erfolgt. IPK kann sogar zur Behandlung der PAVK in Betracht gezogen werden.
Polyneuropathie: Drei einfache Tests bringen Klarheit
Als letztes Beispiel für ein mögliches Risiko bei einer Kompressionstherapie thematisierte Dr. Tobias Hirsch die Polyneuropathie, von der insbesondere Patienten mit diabetischem Fuß betroffen sind. Das Problem: „Sie können möglichen Druck oder Schmerzen, zum Beispiel durch Falten bei der Kompression am Fuß, nicht fühlen.“ Das könne zu Hautveränderungen oder -verletzungen führen. Um herauszufinden, ob bereits eine Neuropathie vorliegt, oder um den Schweregrad einer Neuropathie zu bestimmen, stellte Dr. Tobias Hirsch drei einfache und preisgünstige Tests vor, die jeweils am Fuß bzw. am Unterschenkel ausgeführt werden: Das Temperaturempfinden lässt sich mit einem Instrument feststellen, dessen Enden auf einer Seite aus Kunststoff und der anderen Seite aus Metall bestehen. Bei Hautkontakt werden die Materialien als unterschiedlich warm empfunden. Über das Vibrationsempfinden gibt der Ausschlag der sogenannten Rydel-Seiffer-Stimmgabel Auskunft, die der Arzt sanft anschlägt. Ein mit einem Nylonfilament versehenes Instrument hilft herauszufinden, wie ein Patient auf Druck und Berührung reagiert. Bei schwerer Polyneuropathie rät der Gefäßexperte von kontinuierlicher hoher Kompression ab. In diesen Fällen ist besonders auf eine passgenaue Anfertigung des Kompressionsmittels zu achten und es müssen ggf. Polsterungen eingearbeitet werden.
Das Wichtigste: den Patientinnen und Patienten zuhören
Persönliches Fazit von Dr. Tobias Hirsch: Herzinsuffizienz, PAVK und Polyneuropathie müssen keine grundsätzlichen Kontraindikationen sein. Es komme im Einzelfall immer auf die Schwere der Erkrankung an. „Lernen Sie Ihre Patienten kennen“, appellierte er an die Teilnehmer des Workshops. Neben dem Einsatz von Händen und Augen bei der Untersuchung seien auch die Ohren für die Diagnose wichtig: „Denn die meisten relevanten Punkte erfahren wir, wenn der Patient uns seine Geschichte erzählt.“
Bilder: Bauerfeind, Anika Büssemeier
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