Kompressionsstrümpfe·Venenbeschwerden

»Nur eine evidenzbasierte Versorgungsgestaltung macht Sinn«

Ist-Zustand der Versorgung von Venenerkrankungen in Deutschland

Von Bauerfeind Life Magazin am 21.10.2021

Kurz & knapp „Venenerkrankungen werden oft verkannt“, sagt Professor Dr. Matthias Augustin vom Uniklinikum Hamburg-Eppendorf im Gespräch mit life. Der Direktor des Instituts für Versorgungsforschung in der Dermatologie unterstützt eine datengetriebene Versorgungsgestaltung, denn Studien haben ergeben:

  • Selbst in schweren Stadien führt eine professionell begleitete Kompressionstherapie zu signifikanten Verbesserungen der Lebensqualität und
  • bringt nachweislich ökonomische Vorteile.
Trotz guter Versorgung kommen seiner Meinung nach in Deutschland die frühe Diagnostik beim Phlebologen und die Primärprävention zu kurz. Der Facharzt nennt zum Beispiel familiäre Risiken, Arbeitsplatzgestaltung und eine grundlegende Veränderung des ungesunden Lifestyles schon bei Kindern.

Professor Dr. Matthias Augustin vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf analysiert mit seinem Team fortlaufend die Versorgung von Venenerkrankungen – mit maßgebendem Blick auf die Lebensqualität. Im Gespräch mit life erläutert er, warum es wichtig ist, die Fachrichtung zu stärken, die Primärprävention zu verbessern und zu erspüren, was die Patienten konkret belastet.

life: Sie sind Direktor des Instituts für Versorgungsforschung in der Dermatologie und bei Pflegeberufen. Mit welchen Themen befassen Sie sich?

Prof. Augustin: Eines unserer großen Themen ist die ambulante und klinische Versorgung von Venenerkrankungen. Sie werden häufig verkannt, die Symptome nicht ernst genommen. Die Forschung dazu ist wichtig. Denn nur eine datengetriebene, evidenzbasierte Versorgungsgestaltung macht Sinn. Hierfür nutzen wir verschiedene Datenquellen, wie zum Beispiel die Routinedaten der Krankenkassen, das Statistische ­Bundesamt oder Primärstudien, und prüfen eine Vielzahl von Einzeldaten gegeneinander.

Prof. Dr. Matthias Augustin, Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten, ist Direktor des Instituts für Versorgungsforschung in der Dermatologie und bei Pflegeberufen (IVDP) im Zentrum für Psychosoziale Medizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE), dem einzigen Institut in Deutschland, das sowohl Versorgungsforschung als auch klinische Forschung und praktische ­Versorgung betreibt.
Prof. Dr. Matthias Augustin, Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten, ist Direktor des Instituts für Versorgungsforschung in der Dermatologie und bei Pflegeberufen (IVDP) im Zentrum für Psychosoziale Medizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE), dem einzigen Institut in Deutschland, das sowohl Versorgungsforschung als auch klinische Forschung und praktische ­Versorgung betreibt.

Wie hoch ist der Bevölkerungsanteil mit einer behandlungsbedürftigen Venenerkrankung?

Prof. Augustin: Unsere Daten beziehen sich auf erwerbstätige Erwachsene, die wir in bundesweiten Studien untersucht haben. Hiervon haben jetzt schon circa 25 Prozent eine behandlungsbedürftige venöse Erkrankung. Da Rentner nicht berücksichtigt sind, dürfte der Anteil also viel höher sein und im Zuge der demografischen Entwicklung weiter steigen. Dabei treten am häufigsten frühe Formen auf, weniger die schweren, höhergradigen. Das ist eine Chance! Denn bei diesen Patienten, die bereits erste Beschwerden haben, ist mit Aufklärung und Kompressionstherapie noch viel zu machen.  

Sie forschen nicht nur zu Venenerkran­kungen, Sie behandeln auch selbst. Wie wird aktuell therapiert – können Sie einen Trend beobachten?

Prof. Augustin: Die stationäre Behandlung ist seltener geworden und betrifft hauptsächlich tiefe Venenthrombosen, Komplikationen, Ulzera, operative Eingriffe. Der Trend geht zur ambulanten Versorgung. Hier stellt sich dann die Frage der Weiterbetreuung. Denn in frühen Stadien fühlen sich Patienten gesund, obwohl sie ein chronisches Leiden haben. Ihr Zustand müsste aber ständig beobachtet und die Kompressionsversorgung entsprechend angepasst werden. Idealerweise könnten Hausärzte die Kompressionstherapie prüfen. Doch das kommt zu kurz, denn nur ein kleiner Teil ist phlebologisch geschult. Ich sehe hier auch eine Chance in der Telemedizin. 

Wie stark beeinträchtigen Venenerkrankungen die Lebensqualität?

Prof. Augustin: Linear zur Ausprägung der Stadien nimmt sie deutlich ab. Aber Lebensqualität steht und fällt auch mit der Therapie, dem Lebensalter und den Komorbiditäten. In unserem Institut führen wir dazu sehr hilfreiche strukturierte Screenings durch. Jeder Patient füllt einen Fragebogen aus. Auffälligkeiten und Belastungen sprechen wir an, priorisieren und formulieren ein Therapieziel. Denn der Maßstab unseres medizinischen Handelns sind das Wohlbefinden und die Lebensqualität der Patienten. Erwiesen ist übrigens: Selbst in Stadien ausgeprägter Beschwerden führt eine sachgerechte Strumpfversorgung zu signifikanten Verbesserungen der Lebensqualität.

„Erwiesen ist übrigens: Selbst in Stadien ausgeprägter Beschwerden führt eine sachgerechte Strumpf­versorgung zu signifikanten Verbesserungen der Lebensqualität.“
Prof. Dr. Matthias Augustin

Primärprävention kann Venenleiden verhindern. Wo sollte man ansetzen?

Prof. Augustin: Eine große Rolle spielt das familiäre Risiko. Das abzufragen, ist sehr wichtig, denn schon im Kindes- und
Jugendalter werden die Weichen gestellt. Auch bestimmte Stehberufe können schaden, es lohnt sich, Arbeitsplätze umzugestalten. Doch die gesamte Bevölkerung, auch ohne Vorbelastungen und schon im Kindesalter, braucht eine Veränderung des Lifestyles. Also: Adipositas vermeiden, vernünftig essen, sich bewegen, Sport treiben. Ein gesunder Lebensstil ist nicht nur venenspezifisch ratsam, er hilft auch gegen Gefäßerkrankungen und Diabetes bis hin zur Mortalität. Darüber hinaus beobachten wir ein soziales und ein Bildungsgefälle, was Venenerkrankungen angeht. Eine große gesamtgesellschaftliche Aufgabe!

Was fehlt aktuell für eine flächendeckende sachgerechte phlebologische Versorgung?

Prof. Augustin: Im internationalen Vergleich ist die Versorgung in Deutschland relativ gut, auch wegen einer hohen Kultur der phlebologischen Fort- und Weiterbildung, zum Beispiel bei Dermatologen. Sie sehen viele Patienten, etwa beim Hautcheck, und können Venenprobleme früh erkennen. Das Problem ist, dass nach einer Primärbehandlung oft zu wenig getan wird, das Risikobewusstsein ist zu gering. Und die Versorgung könnte besser koordiniert sein, so dass zum Beispiel die Hausärzte frühzeitig den Experten, sprich den Phlebologen, hinzuziehen.

Die Zusatzbezeichnung Phlebologe war in diesem Jahr bereits zum zweiten Mal in Gefahr. Ihre Datenanalyse konnte das verhindern. Wie kam es dazu?

Prof. Augustin: Richtig. Das erste Mal gab es 2017 beim Deutschen Ärztetag eine Beschlussvorlage, mit der die Zusatzbezeichnung Phlebologie aufgehoben werden sollte. Wir haben damals anhand unserer Daten von GKV, Statistischem Bundesamt und Primärstudien innerhalb einer Woche eine Multi-Source-Analyse erstellt. Sie zeigt unter anderem: Es braucht erstens Spezialisten, also Phlebologen, für eine fundierte Diagnostik, zweitens welche Komplikationen und hohen Kosten versäumte Venenbehandlungen verursachen können und drittens wie wichtig eine qualifizierte phlebologische Versorgung ist. Die Vorlage wurde daraufhin vor vier Jahren wie auch in diesem Jahr verworfen.  

Welche ökonomischen Vorteile würde eine ausgeweitete Versorgung bieten?

Prof. Augustin: Mit fortschreitender Venenerkrankung steigen die sekundären Kosten wie Begleittherapien, Krankenhausaufenthalte, verminderte Produktivität am Arbeits­platz durch Fehlzeiten oder durch reduzierte Leistungsfähigkeit. Internationale Studien belegen, dass eine sachgerechte Kompressionsversorgung zwar zunächst Geld kostet, der „Return on Invest“ wegen vermeidbarer sekundärer Folgekosten aber ungleich höher ist und viele Tausende Euro beträgt.

Weitere Informationen  

Die Analyse „Epidemiologie, Versorgungsbedarf und Versorgungsvolumina peripherer Venenkrankheiten in Deutschland: Multi-Source-Analyse von Primär- und Sekundärdaten“ finden Sie unter https://www.thieme-connect.de/products/ejournals/abstract/10.12687/phleb2440-5-2018

Bilder: Bauerfeind, Stefan Volk

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